Die Würde des Lebens
Von: Susanne Gentzsch
Die Würde des Lebens erklärt sich nicht immer aus sich selbst, sondern oftmals daraus, ob wir dem Leben Würde geben. Unserem eigenen, und dem unserer Mitgeschöpfe.
Die Unwürdigkeit des Lebens fanden wir in einer Ladenecke der Neuen Großen Bergstraße in Hamburg-Altona, auf einer unserer Kontrolltouren, wo wir nach verletzten oder verkrüppelten Stadttauben Ausschau halten.
Eine kleine Stadttaube, fast noch ein Baby hatte sich in die Ecke einer Eingangstür eines Möbelladens zurückgezogen, um dort Schutz vor der eisigen Kälte zu finden, die in diesen Tagen in Hamburg herrschte. Es waren Nächte mit bis zu -10° Grad Kälte. Sie reagierte weder auf ein paar Körner, die wir ihr hinstreuten, noch machte sie irgendwelche Anstalten sich zu wehren, als wir sie aufnahmen. Sie war einfach schon zu geschwächt.
Es gibt unterschiedliche Gründe warum Jungtauben zu früh das Nest verlassen. Manchmal wird es einfach zu eng. Wenn sich eine Taubenkolonie aufgrund der zahlreichen Verbrämungsmaßnahmen dicht zusammendrängen muss, dann gibt es an den Brutplätzen einfach zu wenig Platz, und die Jungvögel werden absichtlich oder unabsichtlich „herausgeschubst“. Der Grund kann auch sein, dass eine Taubenmutter merkt, dass mit ihrem Kind etwas nicht stimmt, weil es krank ist. Dann stellt sie die Fütterung ein, da es in der Natur Energieverschwendung bedeutet, nicht lebensfähige Jungen großzuziehen. Schließlich verfügen Tiere nicht über Ärzte und eine Hochleistungsmedizin so wie wir Menschen.
Ein dritter Grund, warum Jungtauben sich zu früh aus dem Nest stürzen ist der Hunger. Wenn selbst die Eltern nichts finden, da wir in Hamburg ein Fütterungsverbot haben, wie sollen sie dann ihr Junges ernähren? So macht sich manch eine Jungtaube selbst auf den Weg, auch wenn es sie ihr kleines Leben kostet. Vermutlich war es bei „Corny“ so (wie Corner/Ecke). Denn Corny war nicht krank, sondern entwickelte sich in kürzester Zeit unter unserer Fürsorge zu einer kraftvollen jung-erwachsenen Taube, die sehr bald fliegen konnte und ihr Leben allein bewältigte. Es war nur eine kurze Zeit der Unterstützung notwendig.
Das Unwürdige an der Situation als wir Corny fanden war, dass niemand sie beachtete. Die Menschen gingen in diesem Möbelladen ein und aus, und jeder konnte sehen, dass in der Ecke ein hilfebedürftiges Tier lag. Wäre es ein Hunde- oder Katzenwelpe gewesen, so hätte dieser dort mit Sicherheit nicht lange gelegen. Es handelte sich aber „nur“ um eine Stadttaube, und von denen gibt es ja sowieso zu viele und außerdem übertragen sie Krankheiten und, und, und….
Dürfen wir die Berechtigung zum Leben daran messen, wie viele es von einer Art gibt, oder mit wie vielen Vorurteilen wir es belegen? Mit Sicherheit nicht. „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will“, hat Albert Schweitzer einmal gesagt. Das gilt auch für eine junge Stadttaube, die in der Ecke eines Möbelladens in einer eisigen Nacht um ihr Leben kämpft.
Wenn wir sie mitnehmen, geben wir auch unserem eigenen Leben Würde, denn wir setzen uns über alle gängigen Vorurteile hinweg. Das Mitleid mit den Tieren ist etwas Natürliches, das zur wahren Menschlichkeit gehört. Und Ethik ist die „ins grenzenlose erweiterte Verantwortung gegen alles was lebt“. Auch das hat Albert Schweitzer einmal gesagt.
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